Ein nicht alltäglicher Bestimmungsort eines Strubeli-Briefes: Baltic Fleet via Dantzig

Im Oktober des Jahres 1853 brach zwischen der Türkei und Russland der sog. Krimkrieg aus. Russland versuchte damals, die Türkei als Macht auszuschalten, und hatte gehofft, dass Grossbritannien bei diesem Spiel mitmachen würde. Dies war dann jedoch nicht der Fall — im Gegenteil: Grossbritannien erklärte zusammen mit Frankreich am 28. März 1854 Russland den Krieg, und stand somit auf der Seite der Türkei. Es kam zu verschiedenen spektakulären Waffengängen, wie z.B. zur Seeschlacht bei Sinope, bei welcher die türkische Flotte im Schwarzen Meer vernichtet wurde, zur Schlacht an der Alma, in welcher der französische General Bosquet die Russen unter Menschikow besiegte (und die in Paris sowohl einem Platz als auch einer Brücke den Namen gab), sowie zu dem wohl bekanntesten Ereignis: zur Belagerung und Eroberung von Sewastopol, bei welcher sich die Engländerin Florence Nightingale als Betreuerin der vielen Verwundeten hervortat; immerhin hatte diese Belagerung wegen unglaublicher Unfähigkeit der auf beiden Seiten beteiligten Heerführer fast eine halbe Million Opfer gefordert.

Aber nicht von diesem Kriegsschauplatz im Schwarzen Meer soll hier die Rede sein, sondern von einem Nebenkriegsschauplatz, der in den Geschichtsbüchern (wenn überhaupt) meist nur mit einem Satz abgetan wird: dem Krieg der englischen Flotte in der Ostsee (engl. Baltic Sea).

Bereits vor der Kriegserklärung der Engländer und Franzosen am 28. März 1854 war das englische Schiff HECLA am 25. Februar 1854 in Kopenhagen angekommen, um von dort aus die Küsten der Ostsee zu "beaugscheinigen", d.h. für eventuelle Landeoperationen zu erkunden. Am 10.3.1854 passierte die inzwischen aufgestellte englische Baltic Fleet in Spithead die Musterung und segelte am 12. des gleichen Monats ab: 44 Schiffe mit 2'200 Kanonen und 22'000 Mann an Bord. Die Flotte stand unter dem Kommando von Sir Charles Napier, der den schmeichelhaften Übernamen "Mad Charlie" (verrückter Charlie) trug. Er war bereits 67 Jahre alt. Die Neue Zürcher Zeitung zitierte damals eine englische Ouelle: "Sein Name ist eine gutakkreditierte Schuldverschreibung, zahlbar mit zerbrochenen Köpfen. Er wird Matrosen so sicher anlocken, wie Satan die sündigen Menschen". Allem Anschein nach kein angenehmer Zeitgenosse, denn auch andere Zeitungen aus dieser Zeit reden ähnlich über ihn.

Die russische Flotte in der Ostsee bestand aus 27 Linienschiffen, 18 Fregatten und 15 kleineren Kriegsschiffen. Eine 2. Ostseeflotte existierte bereits auf dem Papier, lag jedoch noch zum grössten Teil auf den Werften.

Bereits Ende April hatten die Engländer 14 russische Schiffe genommen oder versenkt, darunter aber auch reine Handelsschiffe.

Am 13. Juni 1854 vereinigte sich die englische mit der französischen Ostseeflotte in Buroesund, nachdem die Engländer am 30. und 31. Mai die russischen Werften in Brahestad und Uleaborg im Norden des Bottnischen Meerbusens zerstört hatten. Am 16. August 1854 wurde Bomarsund auf den Aalandinseln erobert, während man Kronstad vergeblich belagerte, wobei mehrere Schiffe bei der Erkundung durch russische Seeminen verloren gingen. Im Spätherbst 1854 verschwand die alliierte Flotte aus der Ostsee, und kam bis Kriegsende (30. März 1856, Friede von Paris) als Ganzes nicht mehr zurück. Lediglich einige Schiffe hatten auch 1855 die Aufgabe, die ineffiziente russische Flotte in Schach zu halten.

Was uns hier jedoch weit mehr interessiert als die verschiedenen Waffentaten ist die posthistorische Seite der ganzen Angelegenheit. Diese ist insofern interessant, als sich der Grossteil des Postaustausches mit der englischen Flotte über Danzig abwikkelte. Der direkte Postverkehr ging über Dover, Belgien direkt auf dem Landweg nach Danzig, von wo eine besondere Dampferverbindung zur Flotte eingerichtet war (bezw. von der Ostseeflotte nach England in umgekehrter Richtung). Portofreiheit bestand weder für Soldaten noch Offiziere, und eine eigentliche Feld oder Marineposteinrichtung existierte damals auch nicht. Diese wurde erst sehr viel später, nämlich 1882 eingerichtet (in der Schweiz 1889). Zwar hatte das Generalpostamt in London eine besondere Postorganisation in der Krim geschaffen (mit Postämtern in Konstantinople, Varna und Balaklava), aber die Beamten waren zivile Berufspostbeamte, die sich nur gegen Gewährung von Sonderzulagen hatten bereit erklären können, ihren Posten in der Heimat vorübergehend aufzugeben. Bei der Baltic Fleet jedoch fehlte jegliche Postorganisation, wenn man davon absieht, dass auf dem Admiralsschiff "DUKE OF WELLINGTON" eine Art "Postamt" existierte, welches jedoch nicht einmal einen eigenen Poststempel besass. 


Abb. 1: Brief aus Luzern (ab 3.8.1855) über Danzig an die Ostseeflotte. Rückseitig Ausgabestempel des Postamtes Danzig vom 7.8. Laufzeit knappe 5 Tage (heute benötigt ein Brief aus der Schweiz nach Danzig mindestens die doppelte Zeit - auch ohne Zensur in Zeiten des Kriegsrechts. On n'arrete pas le progres . . .)


Abb. 2: Brief von der Ostseeflotte über Danzig nach HONITON / Devon. Abgangsstempel Danzig 2.9.1854 — Ankunftsstempel Honiton 6.9.1854. Laufzeit ebenfalls knappe 5 Tage

Seine Aufgabe bestand darin, die von den einzelnen Schiffen kommenden Briefe einzusammeln, und sie nach Danzig weiterzuleiten, falls nicht gerade ein Schiff direkt nach England zurückfuhr.

Auch scheint es Briefmarken verkauft zu haben, wie die Belege mit Ankunftsstempel in London und Übergangsstempel Danzig belegen.
Sollten Sie jemals einen Brief aus den Jahren 1854 — 1855 finden, der eine Adresse in England trägt, in London abgestempelt ist, und daneben einen Stempel von Danzig trägt, so haben Sie es nicht mit einem fehlgeleiteten Brief zu tun (was ja hie und da auch vorkommen kann), sondern mit einer kleinen Rarität aus der Zeit des Krimkrieges, nämlich einem Beleg von der britischen Baltic Fleet.

Der hier gezeigte STRUBELI - Brief dürfte einer der ganz wenigen sein, welche damals in der Schweiz mit Empfänger "Baltic Fleet" der Post übergeben wurden.

Literaturangabe:

  • Kohls Briefmarken-Handbuch, bearbeitet von Dr. Munk
  • Ploetz, Auszug aus der Geschichte, 26. Auflage 1960
  • Weltgeschichte in einem Griff, von K.M.Jung
  • NZZ 1854
  • History of British Army Postal Service, by E.B. Proud. Band l / 1982
  • Weltgeschichte, von Prof. Dr. J. v.PflugkHartung.

© Schweizerische Vereinigung für Postgeschichte / SVPg