„Ratgeber" für Ganzsachensammler

 (Grosse STREITFRAGEN und kleine ANTWORTEN für Ganzsachensammler und solche, die es werden wollen.) Unter obigem Titel hat der grosse Altmeister der Ganzsachenphilatelie, Dr. Siegfried Ascher, im Jahrgang 1921 der „Ganzsache" eine Artikelserie veröffentlicht, in der er zu über 20 für Ganzsachensammler anfallenden Fragen Stellung nimmt. Dieser „Ratgeber für GanzsachenSammler" ist so interessant, dass er in seinem aktuellen Teil ungekürzt und in der Originalfassung nachfolgend wiedergegeben wird, obwohl man nach fast 60 Jahren die Ansicht selbst eines Dr. Ascher nicht mehr unbedingt teilen braucht.

Vorwort der Redaktion 

In der „Ganzsache"* 1/1980 las ich diesen „Ratgeber" und fand, dass er — wie im Titel angetönt - für zukünftige Sammler von Ganzsachen eine wertvolle Starthilfe ist. Ichbeschloss deshalb, die Artiserie von Dr. Ascher, ergänzt mit einem aktuellen Kommentar aus schweizerischer Sicht von Robert Hürlimann, in die POSTGESCHICHTE aufzunehmen. In dieser Nummer lesen Sie einige Angaben zu den beiden Autoren. Anschliessend sind die zu beantwortenden Streitfragen in Form eines Inhaltsverzeichnisses zusammengefasst.

Dr. Siegfried Ascher (1877-1962), Architekt in Berlin, veröffentlichte viele grössere Arbeiten und Monographien, war von 1919 bis 1927 Schriftleiter der Zeitschrift des Berliner Ganzsachen-Sammler-Vereins und machte sich einen Namen als Verfasser katalogmässiger Bearbeitungen der Ganzsachen. Sein zweibändiger „Grosser Ganzsachen-Katalog" 1928 stellt die erste systematische und noch heute gültige katalogmässige Erfassung der Ganzsachen der ganzen Welt dar. Alle heutigen Ganzsachenkataloge fussen auf dem „grossen Ascher" 
Dr. Ascher musste Deutschland 1939 verlassen und wanderte nach Palästina aus; im philatelistischen Leben Israels spielte er eine führende Rolle bis zu seinem Tod im Jahre 1962

Robert Hürlimann, geboren 1915, war 1947-50 Redaktor der Schweizer Briefmarken-Rundschau und betreut seit 1965 die Redaktion des „Ganzsachensammlers", Organ des Schweizerischen Ganzsachen-Sammler-Vereins. Seit 1960 sammelt er systematisch sowohl Schweizer als auch Deutsche Ganzsachen und hat sich in diesen Jahren gründliche Kenntnisse von beiden Gebieten erworben.

Es freut mich, dass sich Herr Hürlimann bereit erklärt hat, die Probleme aus heutiger Sicht zu kommentieren und gleichzeitig auf Eigenheiten der schweizerischen Ganzsachen hinzuweisen. *„Die Ganzsache", Zeitschrift des Berliner Ganzsachen-Sammler-Vereins von 1901 e.V., des Münchner Ganzsachensammler-Vereins 1912 e.V. und der Arbeitsgemeinschaft Ganzsachen im BDPh e.V. Schriftleiter: O.v. Kries, D-44 Münster/ Westf., Birkenweg 4

Inhaltsverzeichnis 

  • 1. Was ist alles sammelberechtigt? 
  • 2. Gibt es ausser den amtlichen auch noch andere Ganzsachen? 
  • 3. Wie kann man diese privaten und halbamtlichen Posten einteilen? 
  • 4. Sind alle Ganzsachen mit Wertstempel Postwertzeichen im engeren Sinne? 
  • 5. Was versteht man unter „Privatganzsachen"? 
  • 6. Soll man diese Privatsachen sammeln? 
  • 7. Soll man auch Post-Formulare ohne Wertstempel sammeln? 
  • 8. Was für Arten von Ganzsachen gibt es und wie alt sind sie? 
  • 9. Was sind Telegraphenganzsachen? 
  • 10. Warum stehen Telegraphenganzsachen nicht im Katalog? 
  • 11. Was ist wertvoller, gebraucht oder ungebraucht? 
  • 12. Soll man ungebraucht oder gebraucht sammeln? 
  • 13. Was sind „Gefälligkeitsstempel" und wie sind sie zu bewerten? 
  • 14. Woran erkennt man Ganzsachen mit Gefälligkeitsstempeln? 
  • 15. Was sind „philatelistische" Entwertungen und Frankaturen? 
  • 16. Wie soll man gebrauchte Karten mit Antwort sammeln? 
  • 17. Wie soll man gebrauchte Kartenbriefe sammeln? 
  • 18. Wie soll ich meine Ganzsachen aufheben? 
  • 19. Was ist die erste Aufgabe eines jungen Sammlers? 
  • 20. Welche Kataloge und Bücher kommen für den Anfänger, den fortgeschrittenen Sammler und den Spezialisten in Frage? 
  • 21. Wie behandelt man Tauschsendungen? 
  • 22. Wie vergrössere ich meine Sammlung? 
  • 23. Wie verwende ich meine Doppelten?

l. Was ist alles sammelberechtigt? 

Dr. Ascher: Zuerst: Alles, was dir Freude macht; der wahre Sammler schafft und begrenzt sich selbst sein Arbeitsfeld. Dann aber im strengen Sinne: diejenigen Ganzsachen, die von einer die Staatshoheit ausübenden Behörde ausgegeben und am Schalter verkauft sind, soweit dieselben einen Wertstempel tragen, der die Beförderungsgebühr darstellt oder enthält.

Hürlimann: Dass die Post Ganzsachen nicht nur am Schalter verkauft, sondern auch kostenlos verteilt, konnte Dr. Ascher nicht voraussehen. In der Schweiz verteilte sie an der EXPO 1964 in Lausanne eine Sonderpostkarte gratis an die Besucher des PTT-Pavillons, und Telefonabonnenten erhalten bei Neuanschlüssen und Telefonnummer-Änderungen kostenlos frankierte Postkarten zur Bekanntgabe der neuen Nummer. Ganzsachen können die Beförderungsgebühr auch nur teilweise decken, weil bei Portoerhöhungen der fehlende Portosatz durch Zukleben von Briefmarken, teilweise bereits am Postschalter, ergänzt wird.

2. Gibt es ausser den amtlichen auch noch andere Ganzsachen? 

Dr. Ascher: Jawohl, sowohl Privatpersonen und Gesellschaften wie andere Behörden haben ausser der Staatspost Ganzsachen herausgegeben. Man wird jedoch den Unterschied nicht immer streng aufrechterhalten können. Der Sammler strengster Observanz wird viele dieser Ganzsachen ablehnen. Andere Ausgaben stellen Übergänge zwischen privaten und staatlichen Postwertzeichen dar, die die meisten Sammler gern aufnehmen. Für alle diese Gebiete gibt es auch Spezialsammler, auch für die rein privaten Postzeichen. Stellen doch auch sie interessante Gebiete der Geschichte des Verkehrs vor. Nicht sammelberechtigt sind nur gewisse Spekulationsausgaben, besonders aus Kriegsund Revolutionszeiten, deren einziger Zweck ein Attentat auf die Taschen der Sammler ist. Hürlimann: Das gilt heute noch.

3. Wie kann man diese privaten und halbamtlichen Posten einteilen? 

Dr. Ascher: 

  1. Stadtposten, die von privaten Personen oder Gesellschaften unterhalten werden (Hamburger Botenpost, Berliner Paketfahrt usw.). 
  2. Von Privatpersonen oder Gesellschaften auf bestimmten Linien betriebene Posten. Meistens liegen hier Verträge mit den betreffenden Staaten vor, die u. U. das Protektorat übernommen haben, z.B. Davispost in Samoa, Wells, Fargo & Co. in Mexiko und in den Vereinigten Staaten,Donau-Dampfschiffahrtsgesellschaft, Shanghai-Lokalpost usw. 
  3. Kolonialgesellschaften, die von einem europäischen Schutzstaate die Ausübung der Landeshoheit übertragen erhalten haben, z.B. Deutsch-Neu-Guinea-Co., Brit. Südafrikanische Gesellschaft (Rhodesia), Mocambique-Ges. u.a.m. 
  4. Weiterhin haben noch verschiedene andere Behörden Posten eingerichtet, die Ganzsachen herausgegeben haben: 1. Stadtverwaltungen, z.B. Czenstochau 2. Kreisbehörden, z.B. Russland, Semstwoposten 3. Einzelne Postanstalten ohne Ermächtigung der Zentralpostbehörde oder der Landesbehörde, z£. die sog. Postmeistermarken in Amerika, femer Wesenberg (Rakwere),Budweis u.a.m. 4. Irgendeine untere Militärbehörde, z.B. Polnisches Korps 
  5. Posten der Revolutions- oder Gegenregierungen, z.B. Mexiko, Villa-Ausgaben, West-Thrakien (Gümüldschina), Albanien usw. Inwieweit die während des letzten Krieges oder der Nachkriegszeit neu entstandenen Lokalposten sammelberechtigt im engeren Sinne sind, ist heute noch nicht immer einwandfrei festzustellen.

Hürlimann: In der Folge des 2. Weltkrieges wären unter d) noch beizufügen: „Deutsche Lokalposten" und „Ausländer-Lagerposten in Deutschland", die nach Kriegsende entstanden sind.

© Schweizerische Vereinigung für Postgeschichte / SVPg