Vorausentwertungen auf "Sitzender Helvetia gezähnt"?

Auf dem Titelblatt der "Postgeschichte" Nr. 4 vom Dezember 1980 finden wir die Abbildung einer 12Rp. Nachnahmefrankatur aus St. Gallen (Z 28 und 38). In einem Aufruf auf Seite 15 stellt der Herausgeber der Zeitschrift das Vorkommen von Vorausentwertungen in den Jahren 1862 bis 1882 zur Diskussion. Im folgenden wird versucht, an Hand der eingegangenen Zuschriften näher auf diese Frage einzugehen.

Um es vorweg zu nehmen: der im erwähnten Befund von Herrn Moser gebrauchten Formulierung, wonach "die Vorausentwertung nicht eindeutig zu bejahen sei", kann grundsätzlich kaum widersprochen werden. Anders nämlich, als bei den bekannten Vorausentwertungen aus der Rayon- und Strubelzeit (Aarberg, Bühler, Sumiswald, etc.), sind uns aus den folgenden zwei Jahrzehnten keine "klassischen" Herkunftsorte solcher Frankaturen bekannt. Es liegt daher auf der Hand, dass sich bei der Beurteilung einzeln auftauchender Belege eine gewisse Unsicherheit nicht ausschliessen lässt.

Trotzdem glauben wir, dass die weiter unten besprochenen Frankaturen recht gültige Hinweise auf die Existenz solcher Entwertungen geben. Unter den vorhandenen Belegen befinden sich nämlich zwei Fahrpost (Paketpost)-Adressen, die sich für eine Untersuchung weit besser eignen, als blosse Briefpoststücke mit einfachen, immer wiederkehrenden Frankaturen. Einmal erlauben die ungewöhnlicheren Taxen zusammen mit den postalischen Vermerken und weiteren Angaben meistens, die richtige Frankierung zu überprüfen, was die Wahrscheinlichkeit von Verfälschungen weitgehend verringert; andererseits ergeben sich aus der Fülle von Vorschriften über die Frankierung von Paketen durchaus Hinweise darauf, dass ein Postbeamter aus praktischen Gründen zum Mittel der Vorausentwertung gegriffen haben mag.

Blättern wir deshalb etwas zurück: noch zu Beginn der sechziger Jahre untersagte die Post, Pakete mit Briefmarken "frei zu machen", weil sie wegen Form und Beschaffenheit der Verpackung "mehrfache Übelstände" befürchtete. Erst nach einem Versuch im Jahre 1877 wurde auf den 1. Februar 1878 die Frankierung von Paketen eingeführt. Die wichtigsten diesbezüglichen Instruktionen finden wir im Schweizerischen Postamtsblatt (PA) Nr. 30 vom 24. Dezember 1877. Artikel l beispielsweise regelt die Zuschlagstaxen für ungenügend oder ganz unfrankierte Paketsendungen. Weiter unten folgen Angaben über die Einführung "keinen Falls vor 15. Februar 1878" neuer Frankomarken im Taxwert von 40 Rp, entsprechend dem häufigen Porto für Stücke bis zu 5 Kilogramm. Ziffer f) des Artikels 10 schliesslich handelt von der Entwertung der Marken: "Die Marken auf Fahrpoststücken sind mittels eines deutlichen, säubern und stark schwärzenden Abdrucks des Datumstempels zu obliterieren (entwerthen). Wenn wegen der Beschaffenheit des Stückes eine Marke durch den Stempelabdruck nicht vollständig entwerthet werden kann, so ist die Obliteration in der Weise zu ergänzen, dass auf die Marke das Datum der Aufgabe mit scharfer schwarzer Tinte geschrieben wird und zwar in folgender Form: "19/1" (bedeutend 19. Januar)."

Derartig ergänzte Abstempelungen sind auf "Sitzenden" nicht sehr häufig, weil nur während weniger Jahre möglich. Viel öfter finden wir diese auf den "Ziffern" und "Stehenden", wo auch die Entwer- tungen mit den Ringstempeln bekannt sind

Diese umfangreichen Frankierungsvorschriften waren rund ein Dutzend mal Inhalt von Ermahnungen durch Verfügungen (V) der Postbehörden; so wird allein ungenügende Entwertung in V 56/1878, V 262/1881 und V 125/1882 erwähnt. Dies erscheint um so beachtenswerter, als schon in V 274/1876 wörtlich gedroht wird: "Wir setzen für die Zukunft auf jeden undeutlichen Stempelabdruck auf Frankomarken eine Busse von mindestens Fr. 2.— fest und beauftragen die Kreispostdirektionen, diese Strafverfügung vorkommenden Falls unnachsichtlich auszusprechen und im Wiederholungsfalle überdies dem Postdepartement Mittheilung zu machen." Und weiter: "Sollte auch diese Mahnung wieder nicht die gewünschte Beachtung finden, so würde sich das Postdepartement zu seinem Bedauern gezwungen sehen, mit noch grösserer Strenge gegen Fehlbare vorzugehen."

Im Licht all dieser Vorschriften und Weisungen kann man wohl ohne weiteres annehmen, dass ein Postbeamter hie und da auch zu dem einfachen Mittel der "VorStempelung" gegriffen hat, um eine saubere, lesbare Entwertung sicherzustellen.

Nun aber zu den beiden Fahrpost-Frankaturen, die uns hier besonders interessieren. Wir wollen versuchen darzulegen, dass die Marken — obschon nicht übergehend gestempelt - auf diesen Postsendungen verwendet worden sind.


Abb: 1

Abbildung 1 zeigt eine von der Verpakkung ausgeschnittene Adresse, frankiert mit Z 36c und Z 41. Obwohl die Gewichtsangabe fehlt, gibt der (blaue) Vermerk "1.30" zusammen mit "St. Gallen, den 12. Juni 1878" einen schlüssigen Hinweis darauf, dass die mit dem Stempel "St. Gallen 13.6.78, Fahrpost" entwerteten Marken tatsächlich auf diesen Beleg gehören. Wenn wir weiter die 40 Rp Nachnahme-Provision vom ganzen Porto abziehen, verbleiben 90 Rp, was — unter der Voraussetzung, dass Rüthi (Rheinthal) gemäss leider nicht verfügbarer Distanztabelle im II. Fahrpostrayon von St. Gallen liegt - der Taxe für Gewichte von 10 bis 15 Kilogramm entspricht. Bei einer Anzahl von "24 Lesebüchern" ergibt dies ein durchaus "mögliches" Durchschnittsgewicht.

Abb: 2 & 3

Auf den Abbildungen 2 und 3 sehen wir die Vorder- und Rückseite einer vollständigen Paket-Etikette aus leicht welligem, pergament-ähnlichem Papier. Auch wenn hier Angaben über das Datum fehlen, ermöglichen die vorhandenen Postvermerke, die Taxe von 60 Rp (Z 32 und Z 42) zu überprüfen. Das Fahrpoststück von 4 1/2 Kilogramm wurde mit einer WertDeklaration von Fr 20.— von Mesocco nach Chur verschickt. Für Pakete bis zu 5 Kilogramm galt im Gebiet der ganzen Schweiz eine Einheitstaxe von 40 Rp ausserhalb des Lokalrayons (PA 28/1876, Bundesgesetz betreffend die Posttaxen, Art. 19). Durch Art. 24 des gleichen Gesetzes wird der Bundesrat ermächtigt, für Sendungen von Gewichtsstücken über die Alpenpässe (so auch über den "Bernhardin") eine erhöhte Taxe zu erheben . . . , welche durch PA 4/1878 mit Wirkung ab 1. Mai 1878 für Pakete bis zu 5 Kilogramm auf 20 Rp festgelegt wurde. Endlich wird in Art. 21 des PA 28/1876 bestimmt, dass Wertangaben bis zu Fr 100.— auf Fahrpoststücken "fallen gelassen werden", beziehungsweise dafür kein Zuschlag erhoben wird. Aus der Lage der teilweise übereinander liegenden Zähne und jener der Stempelabdrucke geht hervor, dass die beiden Marken eindeutig vor dem Aufkleben gestempelt worden sind. Auch lässt die Richtigkeit des recht ungewöhnlichen Portos hier eine Verfälschung weitgehend ausschliessen.

Wir fassen zusammen: gestützt auf die zwei besprochenen und die weiteren uns vorliegenden Belege (zwei Briefpostsendungen sowie ein Paketausschnitt, bei denen nichts auf eine Verfälschung schliessen lässt) halten wir es für vertretbar, das Vorkommen der zur Diskussion stehenden Entwertungen auf "Sitzenden" eindeutig zu bejahen. Allerdings ist anzunehmen, dass solche Stücke jeweils nur vereinzelt auftauchen und aus verschiedenen Orten stammen; angesichts der grossen Verbreitung der Datumsstempel wird - im Gegensatz zu früher — kaum ein Postbeamter Vorausentwertungen gleichzeitig auf einer grösseren Anzahl Marken vorgenommen haben.

PS: "Vorausentwertungen" sind auch heute noch aktuell: wenn wir die Klebeadresse mit der Frankatur für eine Rundsendung am Postschalter vor dem Aufkleben stempeln lassen, so wird sich der Empfänger ob der "sauberen, lesbaren Obliteration" sicherlich freuen.

© Schweizerische Vereinigung für Postgeschichte / SVPg